„Mannschaft für die Liga“ trifft auf Team für den Europacup / FCZ – Qarabag in der Züri Live-Analyse

Man muss kein junger Spieler sein, um Anfängerfehler zu begehen. Ole Selnaes (28) und Ivan Santini (33) unterliefen die Malheurs, die zu den beiden Gegentreffern im Letzigrund führten. Beim ersten Gegentor spielte Qarabag einen perfekten Konter – bis zur Hereingabe des Rechten Flügels Sheydaev in den Strafraum, die bei Selnaes landete. Dieser hätte den Ball ins Seitenaus spedieren können, ja müssen! Stattdessen versuchte der Norweger den Ball in einer unübersichtlichen Situation im eigenen Strafraum gegen einen anstürmenden Gegner zu stoppen, als hätte er alle Zeit und Musse der Welt. Der Ball versprang ihm dann sogar noch an den Fuss von Condé und spickte von dort vor die Füsse Kadys, der sich nicht zwei Mal bitten liess. Selnaes ist das Sinnbild einer Mannschaft, die explizit für die Liga zusammengestellt wurde. Man nahm in Kauf, Spieler zu holen, von denen man wusste, dass sie zu Beginn Anlaufzeit brauchen.

Mehrere FCZ-Akteure weit von Bestverfassung entfernt

Selnaes hat drei Jahre in der Chinesischen Super League gespielt, die ein deutlich tieferes Niveau aufweist, als die Schweizer Super League. Seine Erste Halbzeit gegen Qarabag war ordentlich bis gut (Züri Live-Note: 6). Nach der Pause baute er dann aber relativ rasch ab und beging so den entscheidenden Fehler (Züri Live-Note Zweite Halbzeit: 2). Ausgewechselt wurde er erst in der 70. Minute. Schon im Auswärtsspiel in Baku wollte Trainer Foda zu Beginn mit Marc Hornschuh Routine ins Mittelfeld bringen: was schief ging – Schnelligkeit, Wendigkeit, Technik sind auf diesem Niveau wichtiger. Ivan Santini hatte gegen Luzern gute Ansätze gezeigt. Gegen Qarabag verlor er aber die Mehrzahl der Kopfballduelle und verursachte mit seinem Ballverlust im Mittelfeld hauptsächlich den zweiten Gegentreffer. Bei diesem verteidigte Mirlind Kryeziu in einer zwei gegen zwei-Situation wie in einer Dreierabwehr, obwohl sein Team mittlerweile auf Viererabwehr umgestellt hatte. Yanick Brecher verschob sich ausserdem zu langsam und liess die nahe Torecke für den Schützen Owusu weit offen.

Ganz anders Qarabag: Qurban Qurbanovs’s Team spielt personell und von der taktischen Formation her praktisch immer gleich. So wie der FCZ letzte Saison. Bezüglich Spielweise war Qarabag in den vier Partien gegen Lech Poznan und den FCZ hingegen sehr variabel: mal mit Angriffen über die Seiten, dann wieder durch die Mitte, mal mit aggressivem Gegenpressing in Baku, dann wieder eher auf Konter lauernd wie im Rückspiel im Letzigrund. Die Stammformation von Qarabag ist qualitativ mit YB vergleichbar – auf einigen Positionen etwas besser besetzt, auf anderen etwas schlechter. Einen Spieler, der wie Kady in einem wichtigen Spiel einen Eckball von links mit dem linken Aussenrist äusserst scharf direkt aufs Tor ziehen kann, gibt es in der Super League nicht. Beim Vergleich der Ersatzbänke ist YB aber besser. Qarabag ist eine eingespielte Equipe mit mehrheitlich Fussballern im Zenit ihres Schaffens. Der Marktwert ist tiefer, als derjenige des FCZ. Dies ist aber eine Messgrösse des individuellen Zukunftspotentials der Spieler eines Kaders.

Qarabag mit weniger Energie und mehr Fehlern als im Hinspiel

Qarabag zeigte in den Begegnungen mit dem FCZ hingegen mehr „Gegenwartspotential“ als Team. Ein Grossteil der Marktwertdifferenz zwischen den beiden Mannschaften machen Becir Omeragic und Wilfried Gnonto aus, die beide in diesen Partien keine wesentliche Rolle spielen konnten. Der letztjährige Top-Joker Gnonto wird aktuell als Stammspieler in die Verantwortung genommen und hat es in den ersten Saisonpartien noch nicht geschafft, diese neue Rolle mit genügend Inhalt zu füllen. Speziell in den ersten 45 Minuten kommt von ihm jeweils zu wenig. Omeragic ist im Aufbau nach seiner Meniskusverletzung. Mehrere ältere Spieler sind noch auf der Suche nach dem Rhythmus oder ihrer Form. Der FCZ hatte im Vergleich mit Qarabag zu viele Spieler an Bord, die möglicherweise mal gut werden oder früher mal gut waren – anstatt solchen, die im Hier und Jetzt gut sind und performen.

Vieles sprach in diesem Spiel eigentlich für den FCZ. Qarabag trat deutlich weniger überzeugend auf, als in den Heimspielen. Der Auftritt erinnerte eher etwas an die 0:1-Niederlage bei Lech Poznan. Das frühe 1:0 des FCZ ähnelte dem damaligen Führungstreffer der Polen sehr stark: schnelles Umschaltspiel über rechts und in der Mitte ist der Captain der Aserbaidschanischen Nationalmannschaft Medvedev indisponiert. Man schien dem Gästeteam die Reisestrapazen anzumerken – auch wenn der Jet Lag bei einem Flug Richtung Westen weniger schlimm sein soll, als umgekehrt. Sie gingen nicht so intensiv ins Pressing wie zuhause, viele Bälle versprangen oder kamen nicht beim Mitspieler an – speziell Spielgestalter Almeida zog einen schwachen Tag ein. Und während der Partie musste Coach Qurban Qurbanov nach und nach seine ganze Defensivabteilung austauschen, so dass ab der Zweiten Halbzeit die Reserve-Defensive auf dem Platz stand. Qarabag setzte in Zürich zudem immerhin zehn Aserbeidschanische Spieler ein.

Defensive Steigerung von Spiel zu Spiel beim FCZ

Wie im Hinspiel war die Schiedsrichterleistung grundsätzlich gut, aber trotzdem mit einzelnen fragwürdigen Entscheiden in heiklen, unübersichtlichen Szenen auf beiden Seiten. Und es waren die gleichen Themen wie in Baku. Der FCZ profitierte dort von einem Offsidetor Kamberis bei Freistoss Guerrero – diesmal stand Santini beim 2:1 in der Nachspielzeit der Zweiten Halbzeit mit einem Fuss wohl ganz knapp im Offside, auch wenn es mit den vorhandenen Kameraperspektiven nicht hundertprozentig auflösbar ist. Wie in Baku hätte es auch in Zürich eine Rote Karte wegen Notbremse gegen einen Qarabag-Verteidiger geben müssen – beide Male wurde der schnelle Rohner von hinten umgestossen, diesmal von Badavi Hüseynov. Ausserdem profitierte Qarabag davon, dass die Fouls von Bajramov gegen Kamberi sowie Wadji gegen Rohner in der Entstehung des 1:1-Ausgleichs von den Unparteiischen übersehen wurden.

Insgesamt kann nach eingehender Analyse der Partie die Leistung des FCZ aber positiver beurteilt werden, als dies in der Schlussanalyse der Radio-Übertragung direkt nach dem Spiel noch der Fall gewesen war. Die Durschnittsnote der Mannschaft ist 6,5, die höchste bisher in dieser Saison, knapp vor dem Auswärtsspiel in Baku (6,3) – wobei es in der Verlängerung einen Leistungsabfall gab (5,5). Neun Spieler kamen gegen Qarabag zu Abschlüssen. Es gab sehr viele gute Offensivaktionen, der FCZ kam vor allem häufig erfolgsversprechend über die Seiten. „Uhrwerk“ Nikola Boranijasevic (MVP) spielte sich mit insgesamt zehn qualitativ hochstehenden Flanken fast schon in einen Rausch. Und die Defensivnoten der Mannschaft haben sich bisher von Spiel zu Spiel gesteigert. Auch Stürmer wie Tosin, Okita oder Gnonto erledigen ihre Defensivaufgaben diszipliniert. Die Qualifikation Qarabags für die nächste Runde war zwar nicht gestohlen, aber nach Expected Goals und Offensivszenen hätte der FCZ eher weiterkommen müssen. Im Rückspiel gehörte die erste halbe Stunde beider Halbzeiten und auch die Zweite Halbzeit der Verlängerung fast komplett dem Heimteam. Im Hinspiel in Baku spielte in der Zweiten Halbzeit ebenfalls praktisch nur der FCZ. Vor allem haben die Zürcher für die kommenden Wochen und Monate noch einiges an Potential nach oben bei Neuzugängen, letztjährigen Schlüsselspielern und auch jüngeren Akteuren, die einen Schritt nach vorne gemacht haben.



Anspruchsvoller Gegner für den FCZ in der Champions League-Qualifikation

Nach 11 Jahren (Royal Standard de Liège, Bayern München) ist der FCZ erstmals wieder in der UEFA Champions League-Qualifikation mit dabei. Dies hat sich die Mannschaft mit einer tollen Super League-Saison 21/22 erspielt, erlaufen und erkämpft. Schon vor der Auslosung der 2. Qualifikationsrunde der Champions League 2022/23 war klar, dass der Kontrahent des FCZ eine anspruchsvolle Hürde werden wird. Denn der Letzigrundclub geht als ungesetztes Team in die Affiche. Und so ist es auch herausgekommen: man trifft Mitte Juli zuerst auswärts entweder auf Qarabaq Agdam oder Lech Poznan.

Qarabaq Agdam ist der politische Prestigeklub aus dem erdölreichen Staat Aserbaidschan am Kaspischen Meer, der in den letzten neun Jahren acht Mal Meister seines Landes geworden ist. Qarabaq ist im Gegensatz zum FCZ international äusserst erfahren und hat sich in den letzten acht Jahren ausnahmslos immer für eine Europacup-Gruppenphase qualifiziert: sechs Mal Europa League, ein Mal Champions League und ein Mal Conference League. Aberdeen, Molde, APOEL oder Sheriff Tiraspol sind die Kaliber, die dabei gegen Qarabaq jeweils das Nachsehen hatten. Gegen Club Atletico de Madrid gab es 17/18 in der Champions League-Gruppenphase zwei Unentschieden und letzte Saison wurde in der Conference League der Sechzehntelfinal erreicht (Ausscheiden gegen Olympique de Marseille). Der FC Basel hatte dabei in der Gruppenphase grosse Probleme mit den Aseris. Im Hinspiel in Baku (0:0) hielt Heinz Lindner für den FCB hinten die Null und im Rückspiel im St. Jakob Park war Qarabaq zu Beginn beider Halbzeiten die bessere Mannschaft – und ihnen wurde vom Schiedsrichtertrio der verdiente Führungstreffer „geklaut“ (Ball klar hinter der Linie, kein VAR). Am Ende gewann Basel dank Cabral deutlich zu hoch mit 3:0.

Einerseits spielt die halbe Aserbaidschanische Nationalmannschaft bei Qarabaq, andererseits sind die ausländischen Verpflichtungen mit denjenigen des FCZ mindestens vergleichbar. Während der FCZ beispielsweise mit Tosin einst einen der besten Torschützen der Lettischen Liga verpflichtete, holte Qarabaq mit Wadji einen Top-Torschützen der Norwegischen Liga.

Spitzenteams der Polnischen Liga wie Lech Poznan waren in den letzten Jahren besser als der FCZ. Nehmen wir hingegen den FC Zürich Ausgabe 21/22 zum Massstab, dann bewegt sich dieser auf Augenhöhe. Auf Transfermarkt liegt der Marktwert von Lech mit 44,85 Mio Euro leicht über demjenigen des FC Zürich. Der wertvollste Spieler von Lech, Jakub Kaminski, wechselt diesen Sommer für 10 Mio Euro zu Wolfsburg. Beim FCZ sind die wertvollsten Spieler Gnonto und Omeragic ebenfalls begehrt beziehungsweise im Fall von Omeragic zusätzlich auch noch angeschlagen. Im Wintertrainingslager hatte der FC Zürich Mühe mit dem letztendlich Drittplatzierten der Polnischen Ekstraklasa, Pogon Szczecin (1:1). Lech Poznan hat schon seit zwei Jahrzehnten den grössten Support im polnischen Fussball. Im 41’000 Zuschauer fassenden Heimstadion kommen in der Liga im Schnitt 22’600 Fans an die Spiele. Beim UEFA Cup-Qualifikationsspiel 2008 in St. Gallen gegen GC war der ganze Auswärtssektor voll. Die polnischen Fans zeigten dem praktisch leeren Rest des Stadions eine Choreographie unter dem Motto „Why so serious?“ (Joker, Dark Knight).