Zeit für ein Umdenken: „Kaskadenmodell“, „personalisierte Tickets“ – und was der Schützenwiese-Pyrowurf mit dem Pyroverbot zu tun hat

Ein Arzt muss genau wissen, was für eine Wirkung ein von ihm ausgestelltes Rezept auf den Patienten hat. Bei Politikern und Beamten wird ein solches Wissen vor Amtsantrtt hingegen nicht geprüft. Sonst würden von diesen für den Umgang mit Fussballfans wohl kaum Rezepte wie Kaskadenmodell oder personalisierte Tickets „ausgestellt“. Personalisierte Tickets als Rezept sind in etwa so, wie wenn ein Arzt nach einem entdeckten Herzfehler eine Blinddarmoperation anordnen würde. Einfach weil er keine Idee hat, wie andere Operationen funktionieren. Personalisierte Tickets würden für die Zuschauer, die Klubs, die Behörden und die Polizei grosse zeitliche und finanzielle Kosten mit sich bringen – ohne dass die Massnahme etwas bringt. Zum Nachweis einer Straftat bräuchte es weiterhin die gleichen Mittel wie bis anhin. Ein Ticket mit einem Namen drauf bringt da nichts. Ganz abgesehen davon, dass man einen weiteren Schritt in Richtung Überwachungsstaat auch als Sitzplatzzuschauer durchaus kritisch sehen kann. Und fast alle Sachbeschädigungen / Gewalt sowieso ausserhalb der Stadien passieren.

Das Kaskadenmodell folgt einer Kriegslogik – das Pyroverbot erinnert an die Prohibition

Mit dem sogenannten „Kaskadenmodell“ hat die KKJPD (Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren) sogar das für unsere demokratische Gesellschaft so essentielle Prinzip der Rechtsstaatlichkeit über Bord geworfen. Kollektivstrafen sind typisch für Diktaturen und verstossen gegen die Bundesverfassungsartikel BV 5, 8 und 9. Die interkantonale KKJPD scheint sich nicht an die Bundesverfassung gebunden zu fühlen. Eine potentiell gefährliche Entwicklung für das Land, die nicht nur fussballinteressierte Kreise hellhörig macht. Das Kaskadenmodell folgt zudem nicht einer rechtsstaatlichen Logik, sondern einer Kriegslogik! Kriegslogik bedeutet: man droht mit Waffen oder anderen Machtinstrumenten, den Konflikt auf die nächste Stufe zu eskalieren, wenn die Gegenseite sich nicht so verhält, wie man das gerne möchte. Nicht mehr Recht und Gesetz für den Einzelnen, sondern das Recht des Stärkeren im Kampf zwischen zwei Gruppen wird zum vorherrschenden Ordnungsprinzip. Ob bewusst oder unbewusst: diejenigen, die sich das Kaskadenmodell ausgedacht haben, sehen sich im Krieg mit den Fussballfans. Eine solche Herangehensweise wirkt eskalierend und verschärft die Fronten. Bisher Unbeteiligte werden in den Konflikt hineingezogen. Im Gegensatz zum Ukraine-Krieg gibt es in diesem Konflikt auf der Gegenseite aber keine „Fan-Regierung“, die man zu gewissen Zugeständnissen bewegen könnte. Fussballzuschauer haben keine Weisungsbefugnis gegenüber anderen Fussballzuschauern. Dass im Kaskadenmodell das Element des „Dialoges“ als Massnahme aufgeführt ist, zeigt die Inkompetenz von dessen Verfassern. Dialog mit wem?

Woher kommt überhaupt die ganze Aufregung? Warum rufen Politiker verschiedenster Parteien nach der „harten Hand“ und schlagen Massnahmen vor, die es normalerweise nur in Diktaturen gibt? Eine entscheidende Rolle in der ganzen verfahrenen Situation zwischen Fussballfans und Sicherheitsbehörden spielt das Verbot der Pyrotechnik – und die damit einhergehenden Begleiterscheinungen. Dazu gehört allen voran die Vermummung. Der Genfer Fan, der nach dem Cup-Halbfinal auf der Schützenwiese eine Pyrofackel auf die Zuschauerränge geworfen hat, hätte dies mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht getan, wenn er nicht vermummt gewesen wäre. Vermummung wird in einem Fanblock zur Normalität, wenn auch der friedliche Einsatz von Pyrofackeln verboten ist. Pyrotechnik als Element von Choreographien ist unter Fussballzuschauern im Stadion und am TV breit akzeptiert. Alle Fans, die in friedlicher Absicht Pyrofackeln anzünden, müssen sich aber zwangsläufig vermummen. Die Situation erinnert an die Amerikanische Prohibition der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Herstellung und Verkauf von Alkohol wurde verboten, obwohl Alkohol in der Bevölkerung breite Akzeptanz genoss. Die Folge: der Alkoholkonsum konnte nicht verhindert werden, die Begleiterscheinungen des Verbotes führten aber zum Aufstieg der Mafia. Menschen, die bereit sind, das Risiko der Illegalität auf sich zu nehmen, erhalten in solchen Zeiten eine wichtigere Stellung in der Gesellschaft. Sie können viel Geld verdienen und bestimmen bis zu einem gewissen Grad die sozialen Regeln. Die Qualität des produzierten Alkohols konnte zudem nicht kontrolliert werden, da die Produktion in den Untergrund gedrängt wurde – mit entsprechend schwerwiegenden gesundheitlichen Konsequenzen bei den Alkoholkonsumenten.

Wer mit Kanonen auf Spatzen schiesst, darf sich über den Schaden nicht wundern

Ähnliche Prozesse spielen sich im kleineren Rahmen aufgrund des Pyroverbotes in der Fussballfanszene ab. Diejenigen Personen, die zu illegalen Handlungen bereit sind, nehmen aufgrund des Verbotes im Fansektor eine wichtigere Rolle ein, als dies sonst der Fall wäre. Sie übernehmen das Hereinschmuggeln und Zünden der Fackeln. Das sind dann naturgemäss nicht in jedem Fall die verantwortungsbewusstesten Personen – speziell in einer etwas schnell und unkontrolliert wachsenden Szene wie aktuell derjenigen von Servette. Die Fans schotten sich ab und entwickeln informelle Strukturen und Taktiken, um die Durchsetzung des Verbotes zu umgehen, die Sicherheitskräfte auszutricksen und manchmal auch zu bekämpfen. Die Gemeinsamkeit des Alkohol- und Pyroverbotes ist, dass mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird. Um einzelne Auswüchse zu bekämpfen, wird wahlweise Herstellung, Verkauf und / oder Verwendung von Alkohol oder Pyrotechnik insgesamt kriminalisiert. Dabei sollte aus der Rechtsgeschichte bekannt sein: der Missbrauch des Strafrechtes für politische Zwecke führt zuverlässig zu kontraproduktiven Resultaten. Die Legalisierung der gewaltfreien Anwendung von Pyrotechnik ist auf unterschiedlichste Art und Weise denkbar. Sie würde den teuren und unnötigen „Kleinkrieg“ zwischen Fussballfans und den Sicherheitskräften wesentlich entschärfen. Beiden Seiten wäre damit geholfen. Und sowohl die knappen Budgets der Fussballklubs wie auch die Steuergelder könnten produktiver eingesetzt werden. Es versteht sich natürlich von selbst, dass nur die gewaltfreie Anwendung von Pyrotechnik legalisiert werden kann und soll. Das Werfen von Böllern und Pyrofackeln ist eine Form von Gewalt. Genauso wie beispielsweise Messer oder Automobile sowohl gewaltfrei wie auch gewaltsam verwendet werden können.

Zuschaueranalyse: Spiele mit Derbycharakter am populärsten im Letzigrund

Zum Saisonabschluss gegen den FC Wohlen gibt es im Letzigrund nochmal eine schöne Kulisse von über 10’000 Zuschauern. Trainer Uli Forte will mit der stärkstmöglichen Mannschaft antreten.

fcz-zuschauer-1617-nach-gegner-prominenz9’423 Zuschauer kamen bis vor dem letzten Heimspiel in dieser Saison im Schnitt in den Letzigrund, deutlich mehr als letzte Saison in der Super League (8’701). Um noch über die 10’000-Marke zu kommen, bräuchte es beim abschliessenden Heimspiel gegen Wohlen 20’000 Fans im 26’000 Zuschauer fassenden Letzigrund, was eher unrealistisch bleiben wird.

fcz-zuschauer-1617-nach-gegner-herkunftWas waren überhaupt in dieser Saison die Faktoren für mehr oder weniger Zuschauerzuspruch im Letzi? Züri Live hat die Daten analysiert und dabei herausgefunden, dass der „Derby-Charakter“ die grösste Rolle gespielt hat. Bei Gegnern aus dem Umkreis von Zürich (Winterthur, Wohlen, Aarau, Schaffhausen, Wil) kamen deutlich mehr Zuschauer, als bei Kontrahenten aus anderen Regionen der Schweiz.

zuschauer-fcz-heimspiele-1617-nach-gegner-tabelleTraditionsteams wie Servette, Xamax oder Aarau zogen kaum mehr Zuschauer an, als in Bezug auf sportliche Erfolge in der Geschichte „graue Mäuse“ wie Le Mont, Wohlen oder Schaffhausen – am meisten Fans kamen bei der dazwischenliegenden „Cervelat Prominenz“ aus Winterthur, Wil und Chiasso. Auch kamen mehr Zuschauer gegen Teams aus dem (zum Zeitpunkt des Spiels) Mittelfeld der Tabelle, als gegen Spitzenteams (da letzteres wiederum meist Xamax und Servette waren).

fcz-zuschauer-1617-nach-anstosszeitenWas die Anspielzeiten betrifft, kamen erstaunlicherweise mehr Zuschauer zu den Spielen am Montag- und Mittwochabend, als am Wochenende. Dies obwohl die unterschiedlichsten Teams von Le Mont bis Winterthur Montags begrüsst wurden.

cl-teams-heimfans-fcz-1617Die anderen Klubs der Liga empfingen zu den Heimspielen gegen den FCZ zwei- bis viermal mehr Zuschauer, als zu ihren anderen Heimspielen. Mit Faktor 4,3 am meisten vom FCZ-Gastspiel profitierte Wil, am „wenigsten“ mit Faktor 1,9 Aarau. Die Aussage in einem NZZ-Artikel von gestern, dass wegen der kurzen Distanz der FCZ nur den Stadien von Winterthur und Schaffhausen bedeutend mehr Zuschauer gebracht und die drei Zugstunden Distanz nach Baulmes oder Chiasso „die Begeisterung der Zürcher Fans gemindert haben mag“, ist also bei mehr als doppelt so vielen Zuschauern zu den FCZ-Gastspielen an diesen Spielorten natürlich falsch. Um zu diesem Punkt Aussagen zu treffen, liebe NZZ, müsste man entweder die richtigen Zahlen vergleichen – oder einfach mal kurz die Bilder aus Baulmes oder Chiasso betrachten:

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61 Millionen Transfererlös – Schweizer Klubs werden zu Spielerhändlern

Der FC Basel stösst mit dem Geschäftsjahr 2016 finanziell für Schweizer Verhältnisse in neue Dimensionen vor. An der gestrigen Bilanzpressekonferenz präsentierte der Verwaltungsrat Finanzen Stephan Werthmüller eine Umsatzzahl von 132 Millionen Schweizer Franken! Dies sind nochmal 27 Millionen mehr als beim bisherigen Rekordergebnis vor zwei Jahren, welches Werthmüller damals noch für nicht mehr übertreffbar hielt. Zum Vergleich: der FCZ hat 2015 einen Umsatz von 22,5 Millionen ausgewiesen. Das sind nicht 20, 30 oder 50% weniger, sondern es geht um den Faktor 6. Für den FCZ ist ein FC Basel zur Zeit genauso in einer anderen finanziellen Dimension wie in die andere Richtung ein FC Schaffhausen oder der nach dem Abgang des Türkischen Besitzers redimensionierte FC Wil. Winterthur, Xamax, Servette oder Aarau sind hingegen näher beim FCZ als der FCB.

Welche Schlüsse können Schweizer Klubs aus diesen Zahlen ziehen? Das Rekordergebnis verdankt der FCB den kürzlich abgeschlossenen TV-Verträgen in Deutschland und England. Durch diese stossen die dortigen Klubs finanziell in neue Sphären vor. Ein Teil dieses Geldes landet durch den «trickle down»-Effekt über den Transfermarkt in der Schweiz und anderen kleineren und mittleren Fussballländern. Die Transfereinnahmen machen für das Jahr 2016 rekordhohe 61 Millionen aus! Damit ist die auf Züri Live vor 8 Monaten berechnete Kennzahl von 1/3 bezüglich dem Anteil der Transfereinnahmen am Umsatz bei den Schweizer Topausbildungsklubs FCZ, GC und FCB zumindest für letzteren bereits wieder obsolet. Es ist nun beinahe die Hälfte! Auch die Transferausgaben des FCB sind mit 23 Millionen (für Spieler wie Balanta, Sporar, Elyounoussi und auch Bua vom FCZ) im Jahr 2016 so hoch wie noch nie gewesen.

Die Schweizer Fussballklubs werden de facto noch mehr als bisher zu Spielerhändlern und Spielerentwicklern. Auch wenn mercato-transfersdie Haupttätigkeit immer noch aus dem Bestreiten der nationalen und internationalen Wettbewerbe besteht, hat die wichtigste Quelle des Umsatzes wie in jeder anderen Branche natürlich einen wesentlichen Einfluss auf die getroffenen Entscheide – auch in sportlichen Belangen. Für die jungen Talente ist das gut. Die Trainer werden von ihrer Klubführung noch mehr dazu angehalten werden, im Zweifelsfall auf die Jungen zu setzen, weil nur diese die den Klub finanzierenden Transfersummen generieren können. Der sportliche Erfolg in Form von Meisterschaften und Cupsiegen wird in Zukunft noch mehr als bisher davon abhängen, wie gut es die Klubleitungen schaffen, an den Milliarden-Umsätzen der Top 5-Ligen direkt oder indirekt zu partizipieren. Dass die Wichtigkeit der Spielertransfers weiter zunimmt, ist für den FCZ positiv. Denn in diesem Bereich ist der Letzigrundklub erfolgreicher, als Konkurrenten wie St.Gallen oder Luzern.

Das Timing spielt bei den Abgängen nicht nur aus Spieler-, sondern auch aus Klubsicht eine entscheidende Rolle. Wechselt der Spieler zu früh, kann man weder sportlich noch finanziell die Früchte von dessen Ausbildung in angemessenem Ausmass ernten. Wechselt er zu spät, verstopft er die «Pipeline» für nachrückende Talente. Dass ein grosser «Talente-Umschlag» nicht zwingend schlecht für die sportlichen Resultate sein muss, beweisen seit Jahren Klubs wie Porto oder Benfica. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Talente-Pipeline gut gefüllt, und die 1.Mannschaft hervorragend geführt ist.

Die Transfereinnahmen werden zunehmend auch erst Jahre nach dem eigentlichen Verkauf des Spielers generiert. Dank «gut formulierten Verträgen», wie sich Werthmüller ausdrückt, hat der FC Basel diesen Sommer mit den Weiterverkäufen von Aleksandar Dragovic von Dynamo Kiev zu Bayer Leverkusen, und vor allem Granit Xhaka von Borussia Mönchengladbach zu Arsenal geschätzt 15-20 Millionen Franken verdient. Es hilft zusätzlich, wenn sich am anderen Ende der Transferkette ein professionell geführter internationaler Grossklub wie Arsenal befindet. Bei solchen Klubs muss man manchmal als Schweizer Verein nicht einmal seine Ansprüche anmelden. Diese nehmen sogar von sich aus Kontakt mit Ex-Vereinen auf, um die in der Vergangenheit von Drittparteien ausgehandelten Vertragsklauseln zu erfüllen, wie Werthmüller ausführt. Zudem habe er in seiner ganzen Amtszeit nur ein einziges Mal bei einem Klub Druck machen müssen, damit das Geld überwiesen wird. Die allfälligen Sanktionsmöglichkeiten über die FIFA oder UEFA seien gross, was international die Zahlungsmoral hochhält.

Die in der Schweiz auf die nächste Saison hin erhöhten TV-Gelder werden vor allem kleineren Klubs helfen, über die Runden zu kommen, bleiben für die grösseren Vereine hingegen weiterhin nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Zuschauer im Stadion hingegen sind in der Schweiz trotz steigender Transfererlöse nicht nur moralisch, sondern auch finanziell ultimativ wichtig. Nicht nur wegen der Ticket-, Catering- und Merchandisingeinnahmen, sondern auch aufgrund der positiven Zusatzeffekte aufs Sponsoring. In diesem Bereich macht beispielsweise YB mit seinen zahlreichen Aktionen und Aktivitäten zur Gewinnung und Pflege der verschiedenen Zuschauergruppen vieles richtig. Die Stadionzuschauer sind neben der Talententwicklung und guten Führung der 1.Mannschaft die Basis für künftige Erfolge von Schweizer Fussballklubs. 

Graphik: Khalil-aich7 (CC BY-SA 4.0)