Aleksandr „Sascha“ Kerzhakov: „ich traf, ich treffe und ich werde treffen“

Aleksandr („Sascha“) Anatolyevich Kerzhakov ist der grösste Fussballstar, der jemals beim FCZ engagiert war. Illie, Filipescu, Waas, Stürmer und selbst ein Brolin oder Yekini reichen nicht an den Namen Kerzhakov heran. Zu seiner besten Zeit war er als internationaler Topstürmer respektiert. In Russland ist er ein Nationalheld – bester Torschütze aller Zeiten der Russischen Liga (224 Tore), seines Stammklubs Zenit St.Petersburg (161) und der Russischen Nationalmannschaft (30). Seine grössten Stärken sind die Abschlussqualitäten sowohl mit dem Fuss, als auch per Kopf – trotz seiner „nur“ 1,76 m – und in seinen besten Jahren auch die Schnelligkeit. Kerzhakov prägte als Motto über sich selbst, welches mittlerweile in Russland zum geflügelten Wort geworden ist: „Ich traf, ich treffe, und ich werde treffen“.

Kerzhakov trifft im Letzigrund in einem Freundschaftsspiel gegen Italien vor der EM 2012 zum 1:0:  

Allerdings: einen wesentlichen Teil seiner Nationalteam-Tore erzielte Kerzhakov gegen Mannschaften wie Liechtenstein, Andorra oder Luxemburg. Er war zudem nur an einem einzigen Turnier (EM 2012 – Ausscheiden in den Gruppenspielen nach der Niederlage gegen Griechenland) Stammspieler, und gewann mit der „Sbornaya“ nie einen Titel. Der in Kingissepp an der Estnischen Grenze geborene Stürmer kam nicht mal in die Nähe einer Trophäe. Das Tor zum 1:1 als Einwechselspieler im ersten Gruppenspiel der WM 2014 gegen Südkorea war zudem sein einziger Treffer an einem internationalen Turnier. Kerzhakov ist aber nicht nur für seine Tore bekannt, sondern ebenso als Chancentod. Der englische „Guardian“ hat sogar das Verb „kershakoved, to kershakov“ in Umlauf gebracht. Es bedeutet: „aus wenigen Metern eine Riesenchance vergeben“.

Am 10.Juni 2009 hat Kerzhakov in Helsinki gegen Finnland nicht „kershakoved“, und schoss im Rahmen der WM-Qualifikation für Südafrika zwei Tore. Bei beiden Treffern sah sein neuer Trainer Sami Hyypiä nicht gut aus: beim ersten reklamierte der lange, blonde Finne Abseits und liess seinen Gegenspieler ziehen – beim zweiten liess sich Hyypiä im eigenen Strafraum vom russischen Flügelflitzer Bystrov austanzen – Kerzhakov konnte mit dem Abpraller erben. Russland scheiterte anschliessend im Playoff gegen Slowenien.

Kerzhakovs Tore gegen Hyypiä:

Tatsache ist, dass Kerzhakov selbst in seinem Stammklub Zenit bis jetzt mit jedem Trainer Probleme bekam. Als 2012 Hulk und Axel Witsel für insgesamt 100 Millionen Schweizer Franken von Porto und Benfica zu Zenit St.Petersburg wechselten, unterstützte Kerzhakov den Captain Igor Denisov in dessen Streik. Die beiden Multimillionäre wollten nicht akzeptieren, dass die neuen ausländischen Stars mehr Lohn kassierten, als sie. Hauptsponsor Gazprom hätte es sich rein finanziell natürlich mit Leichtigkeit erlauben können, die beiden Champagner-Revoluzzer mit ein paar zusätzlichen Millionen ruhig zu stellen, aber einen damit verbundenen Gesichtsverlust durch Erpressbarkeit konnte sich der grösste Energiekonzern der Welt nicht leisten.

Kerzhakov profitierte wie viele andere russische Fussballer vom vielen Geld, das direkt oder indirekt aus den Staatskassen oder von regierungsnahen „Oligarchen“ im letzten Jahrzehnt in den Russischen Fussball floss. Gleichzeitig hatten diese Spieler wegen der vernachlässigten Jugendarbeit schon in jungen Jahren nur wenig Konkurrenz im eigenen Lande. Da kein Grossklub einen der wenigen potentiellen zukünftigen einheimischen Identifikationsfiguren verlieren wollte, wurden die Talente schon in jungem Alter gehätschelt und sehr gut entlöhnt – und wurden so zu einer verwöhnten Generation mit welcher im Laufe der Jahre selbst die renommiertesten Klub- und Nationaltrainer wie Spalletti, Capello, Hiddink und Co. immer wieder ihre liebe Mühe bekundeten.

Kerzhakov gehört in Russland zur regierungsnahen Promi-Elite, nicht zuletzt auch als grosse St.Petersburger Ikone, von wo mittlerweile der Grossteil der führenden Kräfte im Moskauer Kreml stammt. Als einer von rund 500 sogenannten „Vertrauenspersonen“ unterstützte Kerzhakov die bei Teilen der Bevölkerung umstrittene dritte Wahl Vladimir Putins zum Präsidenten der Russischen Föderation im Jahr 2012. Eiskunstläufer Evgeniy Plyushenko war Kerzhakovs Trauzeuge bei dessen ersten Heirat im Jahr 2005. Mittlerweile ist Kerzhakov bei der dritten Frau angelangt – es ist die Tochter des Russischen Senators Vadim Tjulpanov aus St.Petersburg, der für den sich am Polarkreis befindlichen Autonomen Kreis der „Nenzen“ (Fläche vier Mal so gross wie die Schweiz, bei einer Einwohnerzahl wie Köniz) im Russischen Oberhaus sitzt.

Kerzhakov ist zudem längst Teil der russischen Folkore. In einem Satire-Clip muss er nach dem Ausscheiden in der Gruppenphase der EM 2012 zusammen mit dem rundlich gewordenen Arshavin vor Vladimir Putin antanzen. Arshavin erklärt, dass die schlechten Resultate nicht das Problem der Fussballer seien. Man habe halt einfach ein Tor weniger erzielt, als die Griechen. Und fragt danach Kerzhakov nach einem Pack Pommes Chips. Putin droht mit der Versetzung der Fussballer als Sportlehrer in die ländliche Provinz:

https://youtu.be/EX8WMQ7niBI

Vor einem Jahr entschied sich Zenits Trainer André Villas Boas (Ex-Porto, –Chelsea und –Tottenham) zu einem riskanten Schritt: er sah keinen anderen Weg mehr, als nicht mehr auf die Klubikone Kerzhakov zu setzen. Nicht nur spielte Kerzhakov in den sportlichen Planungen von Villas Boas keine Rolle mehr – es wurde ihm ab Sommer sogar zeitweise verboten, das Trainingszentrum von Zenit auch nur zu betreten. Dazu beigetragen hatte unter anderem die Geschichte, als der unter Flugangst leidende Stürmer wegen einer angeblichen Verletzung  nicht nach Saransk an den Ural mitfliegen wollte, eine Woche später dann aber vor dem Auswärtsmatch im deutlich glamouröseren Monaco plötzlich doch im Flugzeug sass.

Zenit spielte in diesem Herbst eine resultatmässig und auch spielerisch beeindruckende Champions League-Herbstkampagne mit fünf Siegen in sechs Partien gegen Valencia, Lyon und Gent. Der Brasilianische Nationalspieler Hulk wirkt nach den Abgängen von Denisov und Kerzhakov wie aufgedreht, und die russischen Talente einer neuen Fussballergeneration praktizieren modernen, schnellen, taktisch anspruchsvollen Fussball. Artjom Dzyuba hat Kerzhakov sowohl bei Zenit, wie auch im Nationalteam den Rang abgelaufen und ist mit sechs Toren nach Cristiano Ronaldo und Robert Lewandowski bisher der drittbeste Torschütze der Champions League. Gleichzeitig hielt sich Kerzhakov in Moskau mit einem individuellen Trainingsprogramm fit. Er weigerte sich, in der 2.Mannschaft von Zenit mitzuwirken. Diese ist immerhin in der zweithöchsten Russischen Liga engagiert. Ob Sami Hyypiä diese Information bei der Verpflichtung von Kerzhakov kannte? Während der Vorrunde hatte der Finnische Trainer in Bezug auf den FCZ immer wieder betont, dass er es nicht verstehen könne, wenn ein Profi die Möglichkeit, in der 2.Mannschaft Spielpraxis zu sammeln, nicht wahrnehmen wolle. Er selbst hätte das als Spieler auf jeden Fall getan.

Aleksandr Kerzhakov – für den FCZ ein Risikotransfer

Kurz vor der Winterpause schien sich alles wieder einzurenken. Es war in der zweiten Halbzeit in Thun eine Mannschaft auf dem Platz zu sehen, die auf technisch gutem Niveau schnell nach vorne spielte, und solidarisch für einander kämpfte. Es wirkte wie ein Befreiungsschlag. Cabral stand da bezeichnenderweise nicht mehr auf dem Platz. Der Waadtländer hatte seit seiner Ankunft im Sommer mit seiner Egozentrik und Selbstüberschätzung nicht nur einen schlechten Einfluss auf den Teamgeist gehabt, sondern auch im Spiel mit seiner Behäbigkeit und den vielen Fehlpässen einem schnellen und erfolgreichen Fussball im Weg gestanden. Und so wie er häufig im Mittelfeld wenig inspiriert umherirrte und den Zweikämpfen manchmal richtiggehend aus dem Wege ging, war er auch defensiv mehr ein Leck, als die erhoffte Barriere. Genauso nicht auf dem Platz stand mit dem Anpfiff zu Halbzeit zwei der technisch und taktisch limitierte Sadiku mit welchem das Team zuvor immer wieder an Kompaktheit und spielerischer Qualität verloren hatte.

Eine Mannschaft hatte sich gefunden

Stattdessen im Zentrum an der Radnabe des Zürcher Spiels agierte Anto Grgic neben Gilles Yapi. Der 18-jährige zog die gegnerischen ersten Pässe im Mittelfeld wie magisch an, stand immer richtig, und konnte dank seiner Technik und Handlungsschnelligkeit schnell auf Gegenangriff umschalten – genau die Art von Spiel, welche Trainer Sami Hyypiä vorschwebt. Vorne hat zudem der lange Zeit divenhaft agierende Mario Gavranovic in den letzten Monaten eine positive Entwicklung zum Teamspieler genommen. Zudem ergänzt sich der Tessiner immer besser mit Stoss-Stürmer Franck Etoundi, und macht Oliver Buff in der Rolle als zurückhängender Stürmer Konkurrenz. Der Weg, wie man in der Rückrunde dem Abstiegsgespenst erfolgreich entkommen kann, war somit klar vorgezeichnet.

Man nehme die Mannschaft der zweiten Halbzeit in Thun, und addiere den von Trainer Hyypiä gewünschten zweiten schnellen Flügel (neben Kevin Bua) in der Form von Marco Schönbächler, Marvin Graf oder Moussa Koné. Als allfällige Verstärkung in der Winterpause hätte man sich am ehesten einen Verteidiger oder sogar Torhüter vorstellen können. In Idealformation kann die FCZ-Abwehrreihe nach der Rückkehr von Kecojevic zwar einigermassen bestehen, aber fällt nur ein Spieler daraus wegen Verletzung oder Sperre aus, ist die vorhandene Qualität für Super League-Verhältnisse ungenügend.

Kerzhakov ist kein Källström

Eine Basis war aber gelegt, um wieder auf den von Lucien Favre initiierten Weg zurückzufinden, und mit technisch gut ausgebildeten, handlungsschnellen und solidarischen Spielern moderneren und damit erfolgreicheren Fussball zu spielen. Einen Fussball, welcher die Gegner in der Super League vor Probleme stellt. Es sollte wieder ein Herkulesaufgabe werden, gegen den FCZ antreten zu müssen.

Und jetzt Kerzhakov. Noch ein Stürmer. Für die viertbeste Offensive der Liga. Und dass er vorne als erster Verteidiger mit aller Kraft hilft, die Defensive zu stabilisieren, ist eher nicht zu erwarten. Etoundis wertvolles Pensum an Pressingarbeit wird Kerzhakov kaum leisten können. Schon bei den deutlich jüngeren Halbstars wie Gavranovic oder Chermiti dauerte es Jahre, bis sie sich endlich mehr an der Defensivarbeit beteiligten. Kerzhakov ist zudem sicherlich ein Akteur, welchem zuzutrauen ist, das nun mühsam wieder zusammengeflickte Teamgefüge eher zu stören, als noch mehr zu kitten. Einer, der den jungen Spielern Flausen in den Kopf setzen und ein schlechtes Vorbild abgeben kann. Nicht, was den Einsatzwillen betrifft – aber in Bezug auf das Verhalten im Team. Ein zweiter „Kim Källström“ ist Kerzhakov auf keinen Fall. Källström hat in seiner ganzen Karriere in allen Teams immer integrativ gewirkt, Kerzhakov eher das Gegenteil davon. Vielleicht kommt ja alles gut, die individuellen Qualitäten Kerzhakovs sind unbestritten – aber ein Risiko ist es auf jeden Fall, in einer so kritischen Phase einen solchen Spieler mit ins Boot zu nehmen. Kann sich der FCZ dieses Risiko leisten?

„Forward to the Past“ für den FCZ und Kerzhakov

Nach der Verpflichtung von Spielern wie Sadiku, Schneuwly, Cabral oder Marchesano ist der russische Rekordtorschütze ein weiteres Puzzleteil in der neuen FCZ-Transferpolitik, welche immer mehr an die irrationalen späten 80-er und 90-er Jahre erinnert. Mit dem steigenden Einfluss von Ancillo Canepa auf die sportlichen Entscheidungen ist dies auch nicht erstaunlich, denn dieser erinnert in vielen Belangen durchaus stark an den unverwüstlichen Sven Hotz. Der Stadtclub ist so auf direktem Weg nicht „Back to the Future“, sondern „Forward to the Past“, in die Zeit eines Tomas Brolin, John Jairo Trellez oder Adrian Illie, welche alle im heutigen gnadenlos schnellen und taktisch geprägten Spitzenfussball keine Chance mehr hätten, mitzuhalten.

Sollte sich Kerzhakov mit seinem neuen Klub und der Liga identifizieren können, hätte er als kämpferischer Wirbelwind, welcher immer auf seine Chance lauert, und keinen Ball per se verloren gibt, durchaus Potential, ein bei den Fans beliebter Stürmer zu werden. Das primäre Ziel von Aleksandr Kerzhakov ist es allerdings, sich in Zürich fit zu halten, um anschliessend zu Zenit St.Petersburg zurückkehren zu können. Denn sein Erzfeind, Trainer André Villas Boas, wird den Klub aus der nördlichsten Millionenstadt der Welt aller Voraussicht nach spätestens im Sommer verlassen. Einen Wechsel Kerzhakovs innerhalb Russlands liess Zenit nicht zu. Offiziell meldete Kerzhakov zudem Ambitionen auf die Teilnahme an der EM 2016 an, wobei seine Chancen darauf wohl als eher gering einzuschätzen sind, zumal aktuell der Trainer von Zenits Rivalen ZSKA Leonid Slutski gleichzeitig in Personalunion auch für das Nationalteam verantwortlich ist.

Kerzhakovs Kulturschock steht noch aus

Auch über weitere Gründe für Kerzhakovs Wechsel in die Schweiz wird spekuliert. So soll er für die Zeit nach Beendigung seiner Karriere bereits vom Russischen Fussballverband und von Zenit ein Angebot haben, sich strategisch um die Entwicklung des Russischen Fussballs zu kümmern. In dieser Funktion war Kerzhakov dieses Jahr bereits einmal in Spanien auf Erkundungstour. Er schaute sich bei seinem ehemaligen Klub Sevilla und bei Real Madrid die Infrastrukturen an, und auch die Zusammenarbeit zwischen den Verantwortlichen (Trainer 1.Mannschaft, Juniorentrainer, Sportdirektor, Präsident…). In der Schweiz soll Kerzhakov erkunden, wie es der hiesige Fussballverband schafft, mit einer so kleinen Bevölkerungszahl so viele gute Fussballer zu produzieren. Seine Bezugsperson Vitali Mutko war früher Präsident von Zenit, der Russischen Profiliga und des Fussballverbandes, und ist heute in einer eher unüblichen Kombination gleichzeitig Russischer Minister für Sport, Tourismus und Jugendpolitik – und Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees.

Dazu kommen als dritter Faktor allenfalls auch noch private Gründe. Mit seiner zweiten Lebensabschnittspartnerin ging es im November in St.Petersburg vor Gericht in einer weiteren Runde um das Sorgerecht für den zweijährigen Sohn Igor (welches zum wiederholten Male Kerzhakov zugesprochen wurde). Die Angelegenheit wurde auf dem ersten Kanal des staatlichen russischen Fernsehens in einer 70-minütigen „Diskussionssendung“ mit Involvierung von Ex-Partnern, Freunden, Bediensteten und Anwälten ausführlich und lautstark breit getreten. Kerzhakov hat zudem eine Tochter, welche bei seiner ersten Frau lebt. Gemäss dem Russischen Boulevard steht es zudem um die dritte Ehe des Russischen „Bombardirs“ zur Zeit nicht zum besten.

Der Trainingsstart am 4.Januar in Zürich wird für den Zenit-Star dann sicherlich zu einem kleinen Kulturschock werden, wenn er erstmals Ivan Kecojevic in dessen Smart und Alain Nef auf dem Velo vorfahren sieht – und sich mit den schmucklosen, einfachen städtischen Infrastrukturen in der Saalsporthalle und der angrenzenden Allmend Brunau bekannt machen wird. Kein abgegrenzter klubeigener Campus, wie es Kerzhakov sein ganzes Sportlerleben lang gekannt hat, und wie es auch schon zu Sowjetzeiten üblich war, sondern ein Training mitten unter Freizeitsportlern, Spaziergängern, Hunden, Skatern und Besuchern des nahen Einkaufszentrums. Selbst der bestverdienende FCZ-Akteur erhält einen Klacks im Vergleich zum Salär Kerzhakovs, welches mit Sicherheit weiterhin (grösstenteils) von Zenit überwiesen wird. In diesen Momenten wird sich wohl mitentscheiden, ob die Leihe für Kerzhakov und den FCZ zum Erfolg wird – oder nicht.

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